Hörspiel des Monats Mai 1993!

 

Von der Vergangenheit in die Gegenwart

Sie ist Sozialhilfeempfängerin. Sie ist alleinerziehende Mutter. Ihre Nerven flattern. Bürokratenkram. Sorgen mit den Kindern. Lärm. Schlechtes Gewissen, weil sie sich als schlechte Mutter fühlt. Chaos bricht aus. Sie sehnt sich nach Ruhe, nach Schlaf. Sie „muß hier raus. Raus". Da regen sich die anderen Stimmen in ihrem Kopf, die Stimmen einer Vergangenheit, die sie verfolgt, ohne daß sie selbst sie erlebt hat. Sie fühlt sich als „Scherbe auf einem Gettoplatz", unheilbar zerbrochen. Sie fühlt sich unbehaust, ohne inneren und äußeren Halt.

Sie kann nichts vergessen: Sie ist Jüdin. Und fühlt sich dazu verdammt, 6 Millionen Leben zu leben, nicht nur eins wie alle anderen Menschen. „Gibt es eine Therapie gegen Nationalsozialismus?" fragt sie sich und kann nur ironisch antworten. Wut Haß, Verzweiflung und tiefe Trauer füllen sie so bis obenhin an, daß sie ihr Leben nicht bewältigen kann, ihr die Liebe nicht gelingt. Symbol dafür sind die Schuhe. Sie kauft schöne Schuhe, ohne sie tragen zu können, rote Schuhe, Bild der Ungebundenheit. Und auch der Schuhberge von Auschwitz.

Donata Höffer gestaltet die verstörte Frau in dem Hörspiel „Rote Schuhe" mit einer großen Spannweite an Farben. Sie flötet im versuchten Smalltalk, schimpft mit sich selbst, flüstert in eisig kaltem Haß, spricht mit leiser Poesie in sich hinein und läßt der Trauer Raum zum Schwingen. Dazwischen schieben sich befremdliche Klänge, verzerrte Worte, schließlich immer mehr Chöre mit auskomponierten Schreien und lang schwingende herzzerreißend melancholische Gesänge. Stefanie Hoster hat für ihre erste Hörspielregie beim Saarländischen Rundfunk den Komponisten Christoph Grund und die Sängerin Birthe Lüthje gewonnen, die dem intim-öffentlichen Monolog eine Ebene verleihen, in der sich der Schmerz unmittelbarer äußern kann als in den Worten.

Ein Hörspiel, das unter die Haut geht mit seinem lakonischen und ganz ohne Sentimentalität formulierten Leid, das weit über das individuelle Schicksal hinausweist, in die Vergangenheit hinein und in die kalte, mühselige Gegenwart.

„Rote Schuhe" ist das zweite Hörspiel von Esther Dischereit, die 1952 in Hessen geboren wurde, in Frankfurt studierte und jetzt in Berlin lebt. (Mechthild Zschau)